Toxisch

drObs Juli / August 2022

drObs Juli / August 2022
Mit frischen Kräften meldet sich die Redaktion aus dem Sommerurlaub zurück – und möchte euch sogleich unsere Sommer-Ausgabe unter dem Titelthema „Toxisch“ ans Herz legen. Es gibt sie bereits seit Juli auf den Straßen Dresdens zu erwerben, und sie wird euch auch noch den August über begleiten.

In unserer Titelgeschichte dreht sich alles um Narzissmus. Soziolog*innen und Psycholog*innen warnen seit Längerem: Wir werden immer narzisstischer. Und das hat Folgen – vor allem für das Miteinander und den Zusammenhalt in Gesellschaften. Jeder von uns trägt einen gesunden Narzissmus in sich – die Fähigkeit, sich selbst zu lieben. Doch unsere Art zu leben, unser Streben nach Individualismus, Selbstverwirklichung und Selbstermächtigung, fördert einen „Ich-Kult“, der maximal mit Normen und Erwartungshaltungen des sozialen Zusammenlebens kollidert. Ausgeprägt narzisstische Menschen sind überzeugt von der eigenen Großartigkeit und tragen das auch exzessiv nach außen. Zu Empathie sind sie kaum fähig, und auf Kritik am eigenen Verhalten reagieren sie oft tief gekränkt, manipulativ und feindselig. Nicht selten hinterlassen sie im Leben ihrer Mitmenschen, aber auch in ihrem eigenen eine Schneise der Verwüstung – bis hin zu extremen Taten wie erweiterten Suiziden oder Amokläufen. Eine Münchner Studie brachte 2012 ans Licht: Auch unter Obdachlosen finden sich viele Menschen mit antisozialen und narzisstischen Verhaltensmustern: Die Unfähigkeit, auf andere zuzugehen, eigene Fehler einzuräumen und Kompromisse auszuhandeln führt immer wieder auch dazu, dass Menschen ihre Wohnung verlieren und der Weg zurück zur (manchmal unüberwindbaren) Hürde wird, deren Überwindung das Anerkenntnis voraussetzen würde, dass man Hilfe braucht. Wir haben mit einem bekennenden Narzissten gesprochen – und mit sogenannten „Co-Narzist*innen“, die stark unter den seelischen Grausamkeiten narzisstischer Angehöriger leiden, ohne sich wirklich lösen zu können. Regelmäßig treffen sie sich in der Dresdner Selbsthilfegruppe „Narzisstischer Missbrauch“.
Des Weiteren werfen wir einen Blick auf die geplante Legalisierung von Cannabis, die noch in diesem Jahr auf den Weg gebracht werden soll. Bringt sie wirklich nur „Gewinner“? Bei genauem Hinsehen profitieren vor allem Staat und Wirtschaft, die Zeche zahlen hingegen abermals ohnehin marginalisierte Gruppen. Wir werfen u.a. einen Blick nach Kanada, wo Cannabis-Konsum seit 2018 legal ist. Das hehere Ziel, auf diese Weise den illegalen Drogenmarkt auszutrocknen, wurde dort bis heute nicht erreicht. Denn der Markt beschränkt sich keineswegs nur auf über-18-Jährige und Menschen mit Vertrauen in staatliche Abgabestellen. Die Vereinten Nationen warnen zudem vor einer Zunahme psychischer Erkrankungen durch hochreines THC.
Und wir haben Anastasia aus Saporischschja getroffen. Die Ingenieurin floh mit ihren beiden kleinen Töchtern im März vor dem Krieg aus der Ukraine und lebt heute in Dresden. Anastasija ist russischsprachig aufgewachsen, hat Verwandte in Russland und war traditionell russlandfreundlich und EU-skeptisch eingestellt – bis Russland die Ukraine Ende Februar brutal überfiel. Heute wünscht sie sich eine Annäherung an die EU auf Augenhöhe, und sie sagt: „Was Russland uns angetan hat, werde ich niemals verzeihen können.“ Alles Russische sei für sie inzwischen „toxisch“ geworden. Damit ist Anastasia eine von vielen russischstämmigen Ukrainer*innen, deren Identität durch den Angriffskrieg in ihren Grundfesten erschüttert wurde.
In unserem Gastbeitrag der Düsseldorfer Straßenzeitung „fiftyfifty“ schließlich nähern wir uns außerdem einem Tabu-Thema: Obdachlose Liebespaare. Wenn das Glück in der Zweisamkeit die Einsamkeit der Straße erträglicher macht – und manchmal sogar den Weg zurück in ein bürgerliches Leben ebnet.